Wie Jean-Michel Gathy mit seinen Designs die Hotellerie verändert hat
Der belgische Architekt Jean-Michel Gathy entwirft die besten Hotels der Welt. Der Visionär verbindet Design mit Emotionalität, kombiniert Inneneinrichtung und Landschaftsgestaltung. Das Geheimnis seines Erfolgs sieht er in seiner Demut: „Ich bin keine Primadonna.“
7. Januar 2025
Seine Lebensleistung ist eine straff gespannte Hängematte über dem Meer. Was nach einer Banalität klingt, hat eine ganze Industrie umgekrempelt: Als das „One & Only Reethi Rah“ 2005 im nördlichen Male-Atoll öffnete, hatte sich der belgische Architekt Jean-Michel Gathy etwas ganz Besonderes für die Villen überlegt – jede von ihnen stattete er an der Terrasse mit einem Netz aus, das über dem Indischen Ozean hing und in das sich die Gäste hineinlegen konnten. So wenig folgenreich sich das anhört, so groß war die Wirkung: Heute findet man kaum ein Resort auf den Malediven (oder in ähnlichen Schönwassergegenden), das kein Entspannungsnetz über dem Wasser anbietet.
© Éric Martin
Jean-Michel Gathy ist der Doyen der Luxushotellerie, ein Erfinder von kleinen Details wie großen Konzepten. Der legendäre Swimmingpool auf dem Hotel „Marina Bay Sands“, der auf drei Wohntürmen in Singapur sitzt – Gathy hat sich diese Badewanne der Extreme ausgedacht. Sein Unternehmen Denniston entwirft seit mehr als 30 Jahren High-End-Hotels, für Marken, die selbst wie Urlaubsdestinationen klingen: Aman, Cheval Blanc, The Chedi. Er nennt sich das verwöhnte Kind der Branche, da sein Büro in Kuala Lumpur jeden Tag wenigstens zwei, drei neue Anfragen erhält – und die meisten absagt.
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Der große Durchbruch gelang Gathy im Jahr 1988. Damals arbeitete der junge Architekt noch in Hongkong, entwarf Zweigstellen von Großbanken oder Ladenlokale für Modekonglomerate – und traf auf den Immobilienentwickler Adrian Zecha. Dieser hatte selbst gerade die Hotelmarke Aman gegründet und wünschte sich von Gathy ein Resort auf der indonesischen Moyo-Insel. Der Belgier erfand ein Camp mit geräumigen Safarizelten, platzierte sie an einem baumbestandenen Strand und mit Blick auf die Flores-See.
© Rupert Peace
Zecha war von der Synthese aus Naturspektakel und Understatement-Luxus begeistert, fortan arbeitete er beinahe exklusiv mit dem Architekten aus Brüssel zusammen. Bis heute hat Gathy mehr als zehn Hotels für die Gruppe entworfen, zuletzt das erste Haus der Schwestermarke Janu in Tokio sowie das spektakuläre „Aman New York“ – dieses eröffnete 2022 nach fünf Jahren Umbauzeit in einem Wolkenkratzer aus den 1920er-Jahren, gleich gegenüber dem ungleich protzigeren Trump Tower.
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Im sogenannten Crown Building finden sich viele Merkmale von Gathys Arbeit wieder: die indirekte Beleuchtung, die klassische Geometrie, die Vorliebe für Spa-ähnliche Badezimmer. Die laute 5th Avenue verbannte er mit moderner Schallisolation aus dem Haus, nur auf der Terrasse des Restaurants spüren Gäste den „Hustle and Bustle“ der Metropole. Auf den Zimmern gaukeln Kamine Landsitzharmonie vor; Schiebetüren teilen die Wohnfläche.
Jean-Michel Gathy pflegt ein holistisches Konzept. Als einer der wenigen Architekten weltweit denkt er gleichzeitig an Außenwirkung, Inneneinrichtung und Landschaftsgestaltung. So sah man den selbst ernannten Kontrollfreak in den Wochen vor der New Yorker Eröffnung, wie er 18-Stunden-Tage im Hotel verbrachte, eigenhändig Möbel verrückte oder Topfpflanzen auf Balkone hievte, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. „Ich lebe von diesem Adrenalin“, sagte Gathy in einem Interview, „es füttert meine Kreativität.“
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Was Gathy von anderen Größen seines Fachs unterscheidet: Er denkt nicht an Monumentalität. „Ich bin keine Primadonna“, lautet eines seiner viel zitierten Credos. Er verzichtet auf Prestigebauten wie Bibliotheken, Brücken oder Bürotürme, die lediglich per Fassade beeindrucken. Gathy sucht nach emotionaler Architektur, in der sich Menschen wohlfühlen – auch wenn sie nicht genau wissen, warum eigentlich. Er gestaltet Erlebnisse, nicht Objekte, verknüpft Intimität mit Drama, priorisiert Komfort vor Größenwahn. Seine Mission beginnt stets mit der Hand: Bis heute zeichnet er die ersten Ideen selbst auf Papier, verwendet dafür einen Filzstift der japanischen Marke Artline, schwarze Tinte, Stärke 0,4. Gathy formuliert diese Gedanken vom Herzen in die Hand; in der Übertragung aufs weiße Papier entfaltet sich der kreative Prozess. Warum er keinen Computer benutzt? „Weil ich damit nicht umgehen kann“, hat er einmal gesagt.
© Clinique La Prairie
In seiner Arbeit vermischt Gathy asiatische Stilelemente mit europäischer Geschichtsverwurzelung. Er schätzt die nuancierte Herangehensweise seiner adoptierten Heimat und die Strukturiertheit des Westens. Heraus kommt ein Mix, der zwischen beiden Polen oszilliert – wie in Portonovi, dem Hafenviertel an der Bucht von Kotor, das aserbaidschanische Geschäftsleute aus dem Boden gestampft haben. Das dazugehörige Luxushotel hat die arabische Kette One & Only gepachtet, Jean-Michel Gathy hat es entworfen, eröffnet wurde es zwischen zwei Lockdowns im Mai 2021. Das Fünf-Sterne-Hotel in Montenegro hat unbestreitbare Vorteile: automatisch hochgehende Toilettensitze, sich auf Knopfdruck anzündende Kaminfeuer und Vorhänge, die sich sanft öffnen, sobald man den Schalter am Bettkopf betätigt. Das Anwesen besteht aus einem Haupthaus mit drei Wohntürmen, mehreren Villen sowie einem großen Park und weist einen aufgeschütteten Sandstrand und ein modernes Medical Spa auf. Beim Frühstück schauen die Gäste auf Palmen, tiefblaues Wasser und die grünen Hügel auf der gegenüberliegenden Seite des Ufers.
© Rupert Peace
Es ist ein typisches Gathy-Gebäude – sofort wähnt man sich gut aufgehoben, jedoch seltsam ortsungebunden. Mexiko, Malediven, Montenegro? Nur Details verraten den lokalen Bezug. Vielleicht sind es besondere Teppiche, architektonische Referenzen oder eigenständige Handwerkstraditionen. Man darf gespannt sein, wie Gathy das „Aman Nai Lert“ gestaltet hat, das Ende des Jahres in Bangkok eröffnen wird. Eines gilt für den Wolkenkratzer aber als gesichert: Er wird keine Hängematten an der Fassade haben.
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Dieser Artikel erschien in der Falstaff TRAVEL Ausgabe Herbst 2024.