harald-munter-X8gvD5NHPdI-unsplash
© Unsplash
AktivDestinationsExperiencesKulturTipps

Tanja Raich: Sommer in Südtirol

Dotterblumen, Granita, Konzerte und Lagerfeuer: Die Schönheiten Südtirols stecken im Detail. Die Südtiroler Schriftstellerin Tanja Raich schwelgt in Erinnerungen über Kindheit, Schule, Kafka und Tourismus.

13. August 2024


Ganz oben weitet sich der Blick, weit über Südtirol hinaus. © Sergio Marcos

Über Südtirol zu schreiben, das ist mit gemischten Gefühlen verbunden: Südtirol, das ist das Land, aus dem ich wegging, als ich 19 war, und in das ich seither regelmäßig zurückkehre. Hunderte Male bin ich schon dieselbe Strecke gefahren, von Wien über Innsbruck über den Brenner bis zum Bahnhof Lana-Burgstall. Dort steige ich aus, um zurückzukehren, dort steige ich ein, um das Land wieder zu verlassen, mal froh, mal melancholisch. Der Bahnsteig ist also der zentralste Ort für mich, er ist ein Zwischenort, hier bin ich noch nicht angekommen und noch nicht fort.

Hier war ich im Dazwischen, als ich dort lebte, eingekesselt von den Bergen, aber mit meinen Gedanken schon längst über die Gipfel hinaus, die Zuggleise als Sehnsuchtsort. Das Dazwischen ist unverändert geblieben, der Bahnhof sieht genauso aus wie immer, beinah unverändert seit seiner Errichtung im Jahr 1881, der Blauregen wuchert unter dem Dach, und sobald der nächste Zug einfährt, ist ein Läuten zu hören, ertönt die bekannte Stimme aus dem Lautsprecher.

Promenaden und Palmen, Gärten und Parks, Burgen und Schlösser und 300 Sonnentage im Jahr – Blick auf Meran. © cherryblossom / Alamy Stock Photo

Wenn ich nach Südtirol komme, dann bin ich keine Touristin, aber auch keine „von da“, ich bin eine „von draußen“ und damit ist Wien gemeint. In Wien bin ich „eine von uns“, darf aber nicht wählen und „unten“, damit sind die Regionen Italiens gemeint, bin ich „Italienerin, aber irgendwie doch nicht“. Ich bin also im Dazwischen, wo auch immer ich hingehe. Komme ich nach Südtirol, dann vielleicht mit der Absicht, mich zu erinnern, an diese Tage, die noch unbeschwert waren, die Tage meiner Kindheit.

Ich suche die Orte auf, die mich zurückversetzen: das Summen der Bienen im Juni unter dem Kirschbaum meiner Großmutter, die Eisdiele und „Konditorei Sader“, in der es noch immer dieselben Eissorten wie vor 30 Jahren gibt, jede Konditorei der Welt erinnert mich immer an diese, den Blauregen am Bahnhof, das geschäftige Klappern der Espressotassen an der Tankstelle, die Autostrada Richtung Jesolo, Granita und Colaeis im „Lido Lana“, das Surren des Sessellifts hinauf auf das Vigiljoch.

Als wäre die Zeit stehen geblieben. Am besten sind die leisen Orte abseits der Trampelpfade. © Getty Images

Es gibt sie noch, diese Orte, sie sind selten touristische Attraktionen und im Sommer gibt es noch mehr davon als im Winter. Es ist das Knacken der Wurzeln auf dem Weg in den Wald, der Holzsteg am Montiggler See, der Geruch der Fichten, der Biss einer Bremse, der Sprung eines Heupferds, die Dotterblumen in der Wiese, die Liegestühle auf der Leadner Alm, der frisch gezuckerte Kaiserschmarren, ein Ameisenhaufen im Wald, die blauen Finger von Heidelbeeren im August und nach verregneten Tagen die leuchtenden Pfifferlinge im Moos.

Schule und Tourismus

© Emi Massmer Emotions

Das „Hotel Emma“ ist eines der berühmtesten Hotels in Meran, dort ging ich zur Schule, scheinbar kamen Postkarten mit der Adresse „An Frau Emma. Europa“ an, so die Legende, Südtirol war schon damals ziemlich angesagt und Frau Emma eine Koryphäe. Die Schule, gegründet als Privatschule der Englischen Fräuleins, war eine für Tourismus und Fremdsprachen, in der ich in Betriebswirtschaft und Tourismusgeografie unterrichtet wurde und mein Englisch auf Tauglichkeit im Reisebüro und die Bedeutung der Farben im Südtirol-Logo abgeprüft wurde. „Genussland, Aktivland, Familienland“ war der Slogan, den ich mir für Prüfungen einprägen musste. Für uns war es der Inbegriff von Langeweile.

Mit der drittältesten Schwebebahn Europas bei Lana geht es auf das Vigiljoch auf 1481 Meter Seehöhe. © beigestellt

Als Jugendliche haben wir Meran als „größtes Altersheim Europas“ bezeichnet, weil es nichts für uns gab, keine zehn Pferde hätten mich damals auf einen Berg gebracht. Mittlerweile habe ich mich dem Alter der Touristinnen und Touristen angenähert, habe das Wandern wieder für mich entdeckt, weiß das große Angebot von Wellnesshotels, ein gutes Glas Vernatsch, die Rennradstrecken und Sommerkonzerte im Schloss Trauttmansdorf durchaus zu schätzen. In einem Tourismusort aufzuwachsen, heißt manchmal, die Schönheit erst spät wiederzuentdecken.

Sommernächte mit Zucchiniblüten

© StockFood /Klaus-Maria

300 Sonnentage im Jahr, auch so ein Satz aus der Schule, aber das ist tatsächlich auch das, was ich am meisten vermisse, vor allem im Winter, wenn der Himmel in Wien von Grauton zu Grauton wechselt. Südtirol kann manchmal unfassbar kitschig sein, wenn man den Waalweg oder Tappeinerweg entlanggeht, der Blick über das Tal mit seinen Bergen und Apfelplantagen, dazwischen Palmen und Zypressen. Ich erinnere mich an einen Abend am „Ladritscher Hof“ beim Karerpass, der Latemar leuchtete orange in der Abenddämmerung, während frische Forellen bei Livemusik und Lagerfeuer auf dem Grill schmorten. Oder der Blick weit über Meran, während im „Gasthof Oberlechner“ die besten Gerichte serviert werden, Löwenzahnschlutzkrapfen oder gefüllte Zucchiniblüten, Steinpilztagliatelle und Marillenknödel.

Die Fusion zwischen Österreich und Italien ist das Beste, was der Küche Südtirols passieren konnte. © beigestellt

Dazu die Sommernächte, der weite Sternenhimmel, die Zikaden, die nun vermehrt auch in Südtirol zu hören sind, und steht man neben einer Zypresse, könnte man wirklich kurz glauben, man wäre wesentlich weiter südlich, in der Toskana. Das Dazwischen, das Südtirol immer schon ausmachte, ist jetzt zum Markenzeichen geworden, die Fusion zwischen Österreich und Italien ist wohl das Beste, was der Küche passieren konnte und von den Gourmetrestaurants auf die Spitze getrieben wird. Doch es braucht nicht unbedingt Gourmetküchen, um gut zu speisen, am besten schmeckt es fast immer noch in den urigsten Weinkellern und Buschenschänken, die nach Moder, nach Weinfässern und Geräuchertem riechen und in denen die Tische so groß sind, dass man mit den sogenannten „Fremden“ an einem Tisch sitzen muss und womöglich einen besonders launigen Sommerabend verbringt.

© beigestellt

Für den Tourismus konnte ich mich zu Schulzeiten wenig begeistern, meine Lieblingsbeschäftigung war es zu lesen. Das tat ich heimlich unter der Schulbank, ich hatte es ziemlich professionalisiert: ein paar Zeilen lesen, dann wieder interessiert zur Tafel schauen. Ich las vor allem Kafka, der 1920 in genau diesem berühmten „Hotel Emma“ drei Monate verbrachte, kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und nachdem Südtirol zu Italien kam. Zehn Jahre zuvor wurde meine Urgroßmutter geboren. 1940 heiratete sie meinen Urgroßvater Gino, ein Jahr nachdem Südtirol vor die „Option“ gestellt wurde: Hitler oder Mussolini.

Sie verstanden damals kaum ein Wort der jeweils anderen Sprache, so erzählt man es zumindest in meiner Familie. Angeblich ist Gino mit dem Fahrrad von Leifers bis Prösels die Bergstraße hinaufgeradelt, nur um sie zu besuchen. Sie haben geheiratet, bevor er einrücken und nach Albanien musste, das erste Kind gebar sie in seiner Abwesenheit und schickte ihm eine Locke per Feldpost. Bis zum Schluss sprach er kein Wort Deutsch, machte sich lustig über das Knödelrollen meiner Nonna, aber aß alle ihre Knödel mit Leidenschaft und ging nie aus dem Haus, ohne sich mit einem Kuss zu verabschieden.

Die kleinen Dinge

Das charmante Boutiquehotel „Villa Verde“ in Algund ist ein Ort zum Entspannen und Genießen. © beigestellt

Lana, der Ort, in dem ich aufgewachsen bin, ist eine Hochburg der Literatur, dort sind Sabine Gruber und Oswald Egger aufgewachsen, die zusammen mit Sepp Mall, Anita Pichler und Norbert C. Kaser längst zum Kanon der deutsch- sprachigen Literatur gehören sollten. Über Südtirols Geschichte lässt sich am besten aus Romanen erfahren wie etwa „Stillbach oder die Sehnsucht“ von Sabine Gruber, die auch von der deutschen Besatzung Italiens zwischen 1943 und 1945 erzählt, oder „Wundränder“ von Sepp Mall, der von den Traumata erzählt, die der Terrorismus der 1960er-Jahre verursacht hat, während „Die Frauen aus Fanis“ von Anita Pichler in die ladinischen Sagenwelten aus dem Dolomitenraum eintaucht.

Mein Zuhause waren immer schon die Bücher, viel mehr als ein Ort oder Südtirol es je sein könnte. Jede Woche ging ich in die Bibliothek Lana, um mir neue Bücher zu holen. Mittlerweile steht die Bibliothek im Zentrum von Lana, ist größer, schöner, opulenter geworden und auf jeden Fall einen Besuch wert (die Eisdiele ist nicht weit!). Wenn im Sommer ein Gewitter aufzog, fast immer zog es aus dem Ultental heraus nach Lana, und wenn der Regen strömte und gegen die Fenster schlug, war das Bett mein kleines Refugium, in dem ich ein Buch nach dem anderen verschlang.

Das beeindruckende Bergpanorama der Dolomiten strahlt eine un- glaubliche Ruhe und Kraft aus. © Marilar Irastorza

Die Kirschen sind längst reif und ich habe sie wie jedes Jahr verpasst, aber bald begebe ich mich wieder auf die Reise, 615 Kilometer in den Süden. Sobald ich am Brenner aussteige, überfällt mich doch immer ein bisschen Wehmut und wenn ich dann über Bozen mit dem Zug weiter ins Etschtal hinauffahre, die Apfelbäume links und rechts von mir, wenn ich meinen Lieblingsberg erspähe, den Gantkofel, der ein bisschen so aussieht wie das Ende der Welt, dann bin ich gerne wieder im Dazwischen.

© Unsplash

„Am größten ist das Glück, wenn es ganz klein ist. Deshalb würde ich, wenn ich mein Leben aufschreiben müsste, nur Kleinigkeiten notieren“, so klingt Franz Kafka und es ist das Schlusswort des neuen Films „Die Herrlichkeit des Lebens“. Am größten ist das Glück, wenn es ganz klein ist, und die Kleinigkeiten sind es, die das Besondere ausmachen, mag es der Flug eines Falken sein, das abendliche Leuchten des Latemars, das Pfeifen der Murmeltiere oder frisch gemähtes Heu in den Haaren, ein kleines Stück vom Sommer. 

Mehr lesen: Die schönsten Events in Südtirol 2024

Dieser Artikel erschien in der Falstaff TRAVEL Ausgabe Südtirol Spezial 2024.

Lesenswert

Die Eventexperten: Wild & Wiese

Die Eventexperten: Wild & Wiese

Die Berliner Full-Service-Eventagentur „Wild & Wiese“ versteht es, einzigartige Veranstaltungen in besonderen Locations mit kreativen Konzepten und fantastischen Menüs zu realisieren. Im Interview verrät Gründer Christian Wilke, wie es zur Idee kam.

Gourmets in Wien: Neue Food-Experiences im Ritz-Carlton, Vienna

Gourmets in Wien: Neue Food-Experiences im Ritz-Carlton, Vienna

Mit "A Caviar Affair" und "Epicurean Dinner Experience" schafft das The Ritz-Carlton, Vienna diesen Oktober besondere Erlebnisse für Gourmets in Wien.

Open Air Spas: Natur und Zen

Open Air Spas: Natur und Zen

Sie liegen inmitten unberührter Natur, umgeben von tropischen Wäldern und glasklarem Wasser, oder thronen hoch oben in Baumkronen: Open Air Spas verzichten auf Wände, Türen und Fenster, hier darf die Grenze zwischen Natur und Wellness-Bereich miteinander verschmelzen.

Meist gelesen

Tamara Lunger: Gipfelstürmerin

Tamara Lunger: Gipfelstürmerin

Triumph und Scheitern: So extrem wie ihr Sport verläuft auch der Weg der Südtiroler Bergsteigerin Tamara Lunger. Sie erklimmt Achttausender, stellt Rekorde auf, erlebt am K2 eine Tragödie und reift durch außergewöhnliche Erfahrungen am Berg.

Südtirol – Eine Bilanz von Markus Lanz

Südtirol – Eine Bilanz von Markus Lanz

Markus Lanz ist einer der erfolgreichsten Fernsehmoderatoren in Deutschland und zudem als Podcaster, Dokumentarfilmer und Fotograf tätig. Seiner Heimat wünscht der Südtiroler Mut zur Bewahrung ihres Erbes.

Das sind die schönsten Reiseziele in Frankreich abseits von Paris

Das sind die schönsten Reiseziele in Frankreich abseits von Paris

Nachdem während der olympischen Sommerspiele aller Augen auf Paris lagen, ist es Zeit, einen Blick auf die schönsten Reiseziele in Frankreich abseits der Hauptstadt zu werfen.

Nach oben blättern