Wunderkammer Madagaskar
Skurrile Gesteinsformationen, einsame Strände, eine Shoppingmall im Jugendstilbahnhof: Ist das noch Afrika oder schon ein ferner Star-Wars-Planet? Eine Reise auf die Insel der flauschigen Äffchen.
11. Juli 2024
© Jenny Zarins
In Madagaskar sagen die Menschen, die Europäer hätten die Uhr, aber die Madagassen besäßen die Zeit. „Mora, mora!“(„Langsam, langsam!“) lautet das Motto eines ganzen Landes – und man darf getrost bei der Ankunft die Uhr abnehmen. Drei Beamte kontrollieren jeden Pass bei der Einreise am Flughafen, blättern durch Seiten, stapeln Pässe, lassen die Menschen eine Traube wie um einen besonders beliebten Marktstand bilden.
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Sich deswegen aufregen? Die Madagassen lachen darüber. Reisen auf die viertgrößte Insel der Welt leben von Flexibilität und Entschleunigung. Gut geteerte Straßen existieren kaum, das Internet fällt bei schlechtem Wetter aus, das Mittagessen wird in Restaurants eine Stunde vor dem Besuch bestellt – gern schon mal per Telefon. Madagaskar ist ein Abenteuer der Kontraste: Üppige Urwälder grenzen an trockene Landstriche, Artenreichtum trifft auf Wirtschaftskrise, Kleinbusse fahren hinter Zebu-Karren. Wer sich darauf einlässt, den entschädigen spektakuläre Landschaften, freundliche Menschen und eine einzigartige Natur – von jahrtausendealten Gebirgszügen, dichten Urwäldern bis zu kilometerlangen Stränden am Indischen Ozean.
Bunte Häuser, steile Treppen
Eine Reise nach Madagaskar ist ein Trip in die Ursprünglichkeit, zurück in eine scheinbar vergangene Zeit, in der Lemuren wie die Kattas die Insel beherrschten. ©Jenny Zarins
Jeder Reisende kommt zuerst in der Hauptstadt Antananarivo an, kurz Tana genannt. Rund 1,8 Millionen Menschen leben in der 1200 Meter hoch gelegenen Stadt, die sich über mehrere Berge ausbreitet. Der erste Eindruck: Sieht ein bisschen wie Rio de Janeiro aus. Bunt gestrichene Häuser kleben an den Bergen, steile Treppen führen von der Unter- in die Oberstadt, dazu kommt die Sonne, die selbst im Winter bei 22 Grad strahlt. Auf dem größten Berg thront weithin sichtbar der steinerne Palast der früheren Königin, der Präsidentenpalast sieht wie eine Miniversion eines Loire-Schlosses aus, und im ehemaligen Bahnhof schlendern wohlhabende Madagassen durch eine kleine Shoppingmall.
Millionen von Jahren dauerte es, bis die Erosion aus Sandbergen die nadelförmigen ̒Tsingy" formte. © Mauritius Images
Wer mit dem Auto unterwegs sein muss, sollte vor sechs Uhr morgens aufbrechen. Danach sind die Straßen für mehrere Stunden mit Kleinbussen, Motorrollern und Lastkarren verstopft – mora, mora. Die schlimmste Strecke, da sind sich alle Touristen einig, ist die Piste von der westlichen Küstenstadt Morondava zu den Tsingy de Bemaraha: Um zu den berühmten Gesteinsnadeln zu gelangen, müssen Reisende acht Stunden mit dem Jeep für etwa 180 Kilometer einplanen.
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Die Straße – ach was, die Sandnarbe – die sich wie eine verknorpelte Leprawunde durch Trockenwälder und Dörfer fräst, ist eine Herausforderung. Die Fahrer müssen ständig auf Schlaglöcher und weggespülte Fahrbahnränder achten. Man hat das Gefühl, der Wagen würde Breakdance machen. Deshalb fährt kaum ein Tourist selbst – in Morondava bieten diverse Agenturen ihre Jeeps mit Fahrer und Guide an.
bis zu 30 Meter hoch und 1000 Jahre alt werden die Affenbrotbäume in der Nähe der Hafenstadt Morondava. © Getty Images
Die Belohnung für diese Strapazen ist enorm: Im ersten Abschnitt passieren die Wagen eine sagenhaft schöne Allee mit 30 Meter hohen Affenbrotbäumen. Jeden Abend kommen Hobbyfotografen an die Baobab Avenue, um den schönsten Sonnenuntergang vor dieser Kulisse festzuhalten. Am Ende der Route, im Nationalpark von Bemaraha, wartet eine der beeindruckendsten Landschaften auf Besucher: Über Millionen von Jahren hat die Erosion aus einem Gesteinsmassiv eine Mondlandschaft voller spitzer Steinnadeln geschaffen. Ein ausgeschilderter Pfad führt durch verwittertes Kalkgestein, es geht auf Leitern in die Höhe, in die Tiefe, durch schulterbreite Felsschluchten, halb gebückt in Höhlen und manchmal über 15 Meter lange Hängebrücken.
Lemuren in einem Star-Wars-Szenario
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Die Aussicht von oben ist sensationell, man kann sich in der menschenfeindlichen Landschaft sofort ein Star-Wars-Szenario ausmalen. Die scharfkantigen Steine formen mal ein riesiges Nashorn, mal einen Dinokopf; der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Der letzte Abschnitt führt durch einen Wald, in dessen Geäst schneeweiße Sifakas hocken. Halbaffen plus Millionen Jahre altes Gestein, multipliziert mit Wandererschweiß – das ist pures Glück.
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Die Lemuren sind die Attraktion jedes Urlaubs auf der Insel. Nur in Madagaskar kommen die Tiere vor, die manche Menschen putzig, andere zum Fürchten finden. Sifakas sehen aus, als hätten sich Kleinkinder ihr Gesicht schwarz angemalt und als Schafe mit zu langem Schwanz verkleidet; schwarze Varis erinnern an Königspudel mit abstehenden Ohren. Viele dieser Arten sind inzwischen vom Aussterben bedroht, weil ihr Lebensraum schwindet. Am besten kann man sie im Andasibe-Nationalpark erleben, 200 Kilometer von Tana entfernt. Er ist eines der größten zusammenhängenden Schutzgebiete. Besucher dürfen nur einen kleinen Teil betreten und geben der Natur so ihre wohlverdiente Ruhe.
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Eine halbe Stunde Autofahrt entfernt liegt die populäre Lemureninsel der Vakona Lodge. Auf einer natürlichen Insel leben dort verschiedene Arten zusammen, die aus vom Raubbau bedrohten Wäldern gerettet wurden. Das Wasser bildet für die Tiere eine natürliche Grenze, Pfleger füttern einige Tiere mit Bananen an, Braunmakis hüpfen von Schulter zu Schulter. Der hautnahe Kontakt ermöglicht erstaunliche Beobachtungen: Halbaffen sind erstaunlich leicht, obwohl sie katzengroß und dicht befellt sind.
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Der gebührende Abschluss in dieser uns fremden Welt ist ein Badeaufenthalt auf einer der zahlreichen Inseln. Lange galt die Westküste wegen der windgeschützten weißen Strände als Traumziel, auf Nosy Be haben sich in den vergangenen Jahrzehnten viele Hotels auf europäische Urlauber spezialisiert. Manche Charterflieger bieten sogar einen Direktflug auf die Insel an.
© Jenny Zarins
Inzwischen schätzen Touristen jedoch die verlassenen Inseln im Nordosten. Nahe der Hafenstadt Diego Suarez (mit einer kleinen kolonialen Innenstadt) hat vor einigen Jahren das „Miavana Resort“ eröffnet – auf der Privatinsel Nosy Ankao, die nur per Helikopter zu erreichen ist. Vorbild für die 14 weißen Villen mit der deckenhohen Rundumverglasung sind Resorts auf den Seychellen, auch Service und Preis orientieren sich am oberen Ende der Skala. Mit den Einnahmen unterstützt Miavana das Schutzgebiet Diarana auf dem Festland und finanziert die aufwendige Renaturierung der Insel. Mehr als 10.000 invasive Kasuarinenbäume wurden abgeholzt, um 70.000 endemischen Pflanzen wieder ihren ursprünglichen Platz zu geben.
Abgeschiedenheit hat ihren Preis: Das „Miavana Resort" gehört zu den besten und teuersten Hotelanlagen Afrikas. © beigestellt
Weiter südlich, auf der Insel Sainte Marie, soll dieses Frühjahr das nächste High-End-Resort eröffnen: Voaara startet zunächst als Barfuß-Luxushotel mit acht Bungalows und soll in einigen Jahren bis zu 45 Villen beherbergen. Madagaskar, so scheint es, hat demnächst viel vor.
Dieser Artikel erschien in der Falstaff TRAVEL Ausgabe Frühling 2024.