Tamara Lunger: Gipfelstürmerin
Triumph und Scheitern: So extrem wie ihr Sport verläuft auch der Weg der Südtiroler Bergsteigerin Tamara Lunger. Sie erklimmt Achttausender, stellt Rekorde auf, erlebt am K2 eine Tragödie und reift durch außergewöhnliche Erfahrungen am Berg.
12. September 2024
© IDM Südtirol-Alto Adige/Andreas Mierswa
Zu Fuß durch die Mongolei. Eine Winterexpedition durch Sibirien. Besteigung des K2 ohne künstlichen Sauerstoff. Das lässt an Reinhold Messner denken. Doch der Über-Bergsteiger aus Villnöß ist nicht der einzige Südtiroler, den die Liebe zu den Bergen und die Leidenschaft für extreme Erfahrungen über heimische Gipfel und Grenzen hinaustrieb. Tamara Lunger, 1986 in Bozen geboren, stand schon in ihren Zwanzigern auf den Gipfeln zweier Achttausender, lebte am Limit und fand in den Bergen zu sich selbst. Heute bezeichnet sie sich als „soul mountaineer“. Geprägt durch die Liebe zur Natur und den Bergen, ist sie dank ihrer Grenzerfahrungen auch als Motivationstrainerin erfolgreich. Hinter der Achtunddreißigjährigen liegen Erlebnisse und Herausforderungen, die in ihrer Intensität für zwei Menschenleben reichen: grandiose Erfolge, gefährliche Momente und eine Tragödie.
Die richtige Ausrüstung ist beim Klettern und Bergsteigen die halbe Lebensversicherung. © Mattia Zoppellaro/contrasto
Seit früher Kindheit ist Tamara selbst für Südtiroler Verhältnisse mit dem Bergsport besonders eng vertraut. Mit zwei jüngeren Schwestern wächst sie in einem Dorf im Eggental auf. Die Kinder sind immer in der Natur, in den Bergen. Papa Hansjörg ist ein bekannter Skibergsteiger, gehört der italienischen Nationalmannschaft an und feiert bei Wettkämpfen Erfolge. Tochter Tamara ist immer dabei. Der Vater nimmt sie schon als kleines Kind mit aufs Schwarzhorn – auf Skiern.
Kein Wunder also, dass sie in die Weltspitze des Skibergsteigens vorstößt, als Mitglied der Nationalmannschaft Titel holt, zweimal den Rennwettbewerb Pierra Menta gewinnt und 2008 auf der Marathondistanz Weltmeisterin wird. Schon als Teenager träumt sie aber auch davon, Achttausender zu besteigen. Als sie beim Abiball Simone Moro kennenlernt, den Mann ihrer Sportlehrerin und einer der besten Alpinisten Italiens, erhält sie die Chance, ihren Traum zu verwirklichen. 2009 reist sie zum ersten Mal nach Nepal. Mit Moro, der sich besonders für Wintererstbesteigungen interessiert, wird sie Expeditionen auf die höchsten Berge der Welt und durch Sibirien unternehmen.
Auf den Spuren von Reinhold Messner
Höhenbergsteigerin Tamara Lunger erlebte in den Bergen Herausforde-rung, Glück und Verlust. © seasons.agency / Jalag / Lengler, Gregor
Erfolge pflastern ihren Weg, seit sie erste Wettbewerbe im Skibergsteigen gewann. Im Mai 2010 steht die noch nicht Vierundzwanzigjährige auf dem Gipfel des Lhotse, des mit 8516 Metern vierthöchsten Bergs der Erde – als jüngste Frau, der dieser Aufstieg gelang. Vier Jahre später legte sie noch 100 Meter drauf: Im Juli 2014 erreicht sie als zweite Italienerin den Gipfel des K2, des zweithöchsten Bergs der Welt, der als der schwierigste der vierzehn Achttausender gilt. Mehr noch: Sie schafft es ohne Flaschensauerstoff – eine Disziplin, die einst Reinhold Messner zum Maßstab echten Bergsteigens gemacht hatte.
Tragisch erscheint ihr Scheitern bei der Winterbesteigung des Nanga Parbat im Jahr 2016: Keine hundert Meter unterhalb des Gipfels kehrt sie um. An die eisigen Temperaturen von mehr als dreißig Minusgrade hatte sie sich gewöhnt. Doch nun, mit dem Ziel in Sichtweite, setzen ihr Erschöpfung und starker Wind zu. Während es ihre drei Mitstreiter, unter ihnen Simone Moro, nach oben schaffen, macht sie sich alleine auf den gefährlichen Rückweg.
© IDM Südtirol-Alto Adige/Andreas Mierswa
In Wahrheit ist ihre Umkehr kein Versagen, sondern kluge Einsicht. Denn anders als zu viele andere kehrt sie zwar durch einen Sturz verletzt, aber lebendig von der Expedition zurück. Sie habe, erklärt sie später, auf ihre innere Stimme gehört: „Die sagte mir: Wenn du jetzt weitergehst, kommst du nicht mehr zurück.“ Zwei Jahre später ist sie wieder mit Moro in Pakistan unterwegs, die beiden wollten im Winter zwei Achttausender überschreiten: den Hidden Peak alias Gasherbrum I und den Gasherbrum II. Die Tour endet beinahe mit einer Katastrophe, als Moro – dem 2011 zusammen mit zwei weiteren Bergsteigern die erste Winterbesteigung des Gasherbrum II gelungen war – in eine Gletscherspalte stürzt. Durch Konzentration und Glück gelingt ihnen die Rettung, doch die Expedition ist vorüber. Dennoch bleibt der Winter eine Herausforderung, die Tamara nicht aus dem Kopf geht. Denn anders als im Sommer sind die Berge des Himalaja dann so gut wie menschenleer.
Rückkehr zum K2 bei eisigen Temperaturen
Der Weg führt immer steil nach oben: Klettern an der Wand. © Mattia Zoppellaro/contrasto
Sieben Jahre nach ihrem ersten Aufstieg kehrt sie mit 34 Jahren zum K2 zurück – im Winter. Noch nie zuvor wurde der 8611 Meter hohe Berg zu dieser Jahreszeit bestiegen. Moro ist anderswo unterwegs, Tamara bildet mit Alex Gavan ein Team. Von Anfang an beschließt Tamara, auch unter widrigen Bedingungen ohne künstlichen Sauerstoff aufzusteigen. Doch die Chemie zwischen ihr und Gavan stimmt nicht. Die Winter-Erstbesteigung gelingt am 16. Januar 2021 einer Gruppe aus Nepal. An diesem Tag verunglückt der spanische Bergsteiger Sergi Mingote tödlich, woraufhin Gavan abbricht.
Die Dolomiten sind für Südtirolerin Tamara Lunger die schönsten Berge der Welt. © IDM Südtirol/Andreas Mierswa
Tamara schließt sich mit dem Chilenen Juan Pablo Mohr zusammen, dem Seilpartner Mingotes, mit dem sie sich schnell blind versteht. Doch während dem Aufstieg ist Tamara nicht fit: Ihr Magen rebelliert. Wieder muss sie zurückzubleiben – ausgerechnet am K2, ihrem „Herzensberg“. Doch die Entfernung zum Gipfel ist groß, die Eiseskälte so quälend wie die Magenprobleme. Sie bleibt auf 7350 Meter Höhe in Lager 3, während Mohr sich drei anderen anschließt. Einer aus dieser Gruppe muss abbrechen, weil sein Sauerstoffgerät nicht funktioniert. Die drei anderen gehen weiter – und kehren nie zurück.
„Ich bin mit einer positiven Einstellung gestartet und habe geglaubt, dass ich alles schaffen könnte“, schreibt Lunger auf ihrer Website. „Der K2 hat uns aber nach dem Erfolg der Nepalesen deutlich gemacht, dass dies nicht unser Platz war.“ Der Schock über das Erlebte sitzt tief, sie wird von Ängsten und Depression geplagt. Kraft geben ihr die Südtiroler Berge, die für sie die schönsten der Welt sind. Ein Jahr später kehrt sie ins Basislager zurück, um an einer Trauerfeier für die verunglückten und vermissten Freunde teilzunehmen. War ihr früher keine Herausforderung groß genug, weiß sie heute, wie wichtig es ist, den eigenen Körper zu respektieren. „Wir müssen den Mut haben, unserer Intuition, unserem Instinkt zu folgen.“
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Dieser Artikel erschien in der Falstaff TRAVEL Ausgabe Südtirol Spezial 2024.