Boatlife: Leben auf hoher See
Immer mehr Menschen wollen grenzenlose Freiheit erleben – manche ziehen dafür zeitweise auf ein Boot. Ob im Sabbatical, als Homeoffice auf Zeit oder als alternativer Lebensentwurf ohne feste Wohnung: Auf hoher See wartet das große Abenteuer.
11. Januar 2024
© Photo Kika Mevs and Daniel Deckert
Der Wind streift einem durch die Haare, die Gischt spritzt ins Gesicht, man segelt der Sonne entgegen: Um die Welt zu schippern klingt nach der ultimativen Freiheit. Kein Wecker klingelt, kein Berufsverkehr wartet – kein Hamsterrad, aus dem es auszubrechen gilt. Auf dem Meer gibt es unendlich viel Zeit und Platz, man badet, wo, wann und wie lange man Lust hat und geht in den schönsten Buchten vor Anker, um zu schnorcheln oder zu tauchen. Das Abendessen angelt man selbst, und der Sternenhimmel leuchtet so hell, wie er es in der Stadt niemals könnte.
© Photo Jessica Schoeller-Szüts and Jan Hendryk
Beim Boatlife ist der Weg das Ziel, jeder Tag ist ein neues Abenteuer. Der Trend geht sowieso in Richtung Slow Travel: sich einfach treiben zu lassen und die schönsten Plätze möglichst ungefiltert und hautnah zu erleben. Outdoor-Reisen stehen nicht zuletzt seit der Pandemie hoch im Kurs. Man möchte sich wieder Wind und Wetter aussetzen, seine Komfortzone verlassen. Mittlerweile leben aber auch immer mehr diese Träume tatsächlich aus, ob auf Zeit oder als alternativen Lebensentwurf mit unbestimmtem Ende.
Weniger ist mehr
© Photo Elena Dostal and Ben Schaschek
Boatlife steht aber nicht nur für Freiheit, sondern auch für Reduktion. Man muss sich von Überflüssigem trennen, hat kaum schicke Kleidung dabei, weil ohnehin nur für das Notwendigste Platz ist. Ausgedehnte Shoppingtouren an Land? Eher kontraproduktiv. Wer sich für ein temporäres Leben auf einem Boot entscheidet, muss erst einmal entrümpeln, im Kopf und im Kleiderschrank. Ein Segelboot fühlt sich maximal wie ein Tiny House an, viel an Rückzugsplatz gibt es nicht. Viele, die lange auf Segelbooten waren, sagen, das habe sie verändert. Sie brauchen keine unnötigen Dinge mehr, sie benötigen eher weniger als mehr.
© Niklas Marc Heinecke
Der Ozean bringt sie ins Gleichgewicht, sie tanken neue Kraft, verstehen es, wieder im Moment zu leben – oder haben gelernt, Arbeit und Vergnügen auf neue Art zu verknüpfen. Digitale Nomaden leben nicht nur auf ihrem Boot, sondern bestreiten auch ihren Unterhalt in ihrem schwimmenden Office. Früher war das schwierig, mittlerweile lässt sich fast überall eine Internetverbindung über eine lokale SIM-Karte am Handy herstellen. Im Hafen hat man dann auch meist WLAN – aber wie stabil die Verbindung ist, ist natürlich nie ganz sicher. Auch da lautet das Motto „Relax!“ – es lässt sich nicht alles planen. Man muss lernen, entspannter und kreativer mit Herausforderungen umzugehen. Gleichzeitig ist Disziplin enorm wichtig, wenn man so losgelöst von allem unterwegs ist. Man muss seine E-Mails regelmäßig checken, auch wenn das Meer gerade verlockend türkis leuchtet.
Chartern oder kaufen?
© Photo Elena Dostal & Ben Schaschek
Bevor man sich bindet und selbst ein Boot anschafft, sollte man eine Probezeit an Bord absolvieren. Durch Chartern kann man überprüfen, ob das Leben auf einem Schiff einem anspricht; gegen Aufpreis ist ein Kapitän dabei. Man kann sich aber auch einer bestehenden Crew anschließen. Gegen Unterstützung beim Segeln, Kochen oder bei der Kinderbetreuung reist man kostenlos oder mit geringen Kosten, „Hand gegen Koje“ nennt sich das. Es gibt aber auch Boot-Tramper: Die Schwestern Julia und Lisa Hermes berichten in ihrem Buch „Out there“, wie sie per Anhalter über den Atlantik gesegelt sind. Sie wollten nachhaltig reisen, auf keinen Fall in ein Flugzeug steigen. Wer etwas Zeit mitbringt, findet mit großer Wahrscheinlichkeit eine schwimmende Mitfahrgelegenheit. Hotspots für Boote, die in die Karibik aufbrechen, sind Las Palmas, Gran Canaria und die Kapverdischen Inseln.
Flexibilität ist ein Muss
© Photo Jessica Schoeller-Szüts and Jan Hendryk Büse
„Wer sich für das Bootsleben entscheidet, wird täglich mit kleinen und großen Abenteuern überrascht – manche davon sind unfassbar herausfordernd, andere einfach nur atemberaubend. Man gewinnt außerhalb der eigenen Komfortzone an mentaler Stärke“, sagt die Journalistin Katharina Charpian, die das Buch „Boatlife – Leben und Freiheit auf dem Wasser“ geschrieben hat. Die Menschen, die sie porträtiert hat, fahren allein, als Paar oder in der Gruppe übers Mittelmeer, in die Karibik und sogar bis nach Grönland. Was sie alle berichten: Flexibilität ist gefragt. Besser, man hat einen Plan B und C parat, weil es meist anders kommt als gedacht. Es gibt auch viel zu tun. Ständig ist etwas zu reparieren, die Wäsche muss gewaschen werden, man muss Trinkwasser besorgen. Das Gute dabei: Man hat eine perfekte Balance aus Abenteuer und Entspannung. Mal konzentriert man sich aufs Segeln, was gut ist, um abzuschalten; mal genießt man an einsamen Stränden Sonnenuntergänge, ganz ohne Stress.
Hund an Bord
© Photo Arnoud Apituley
Es zeigt sich schnell, ob man gemeinsam auf einem Boot reisen kann oder nicht. Wichtig ist, sich auch auf kleinstem Raum möglichst viel Freiheit zu lassen, für Rückzugsmöglichkeiten zu sorgen – kein Wunder, dass Teambuilding auf Booten so effizient ist. Zusammenarbeit ist essenziell, man muss sich auf andere verlassen können. Dabei lernt man auch, aufeinander zu achten, sich gegenseitig zu unterstützen und zu schätzen, was die jeweilige Person besonders gut kann. Je besser man die Tätigkeiten aufteilt, desto zufriedener sind alle an Bord. Viele nehmen auch ihre Hunde mit, die Vierbeiner gewöhnen sich erstaunlich schnell an das Leben an Bord. Während des Segelns ist es wichtig, ihnen eine Rettungsweste anzulegen und sie mit einer langen Leine zu sichern. Manche lernen sogar, an Bord Gassi zu gehen, andere beharren auf mehrmaligen Landgängen pro Tag. Auch hier empfiehlt sich: Mit kleinen Bootsfahrten beginnen, dann langsam steigern.
Achtung, Suchtgefahr!
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Welches Boot kommt infrage? Auch da gibt Katharina Charpian gute Tipps: Wochenendsegelnde entscheiden sich für sechs bis acht Meter lange Boote mit Minikajüte ohne Stehhöhe, Paare setzen auf zehn bis zwölf Meter, Familien, die Vollzeit auf dem Boot leben, findet man auf 40-50 Fuß-großen Yachten, die sich mit einer 35-Quadratmeter-Wohnung vergleichen lassen.
© Photo Allison Medeiros and Denis Dowling
Ähnlich wie beim „#vanlife“ gibt es auch beim „#boatlife“ mittlerweile eine große und stetig wachsende Online-Community. Man hält zusammen, hilft sich gegenseitig – mit Tipps, welche Boote wofür geeignet sind, welche Routen welche Tücken haben und wo man besonders gut anlegen kann. Globale Netzwerke wie Ocean Nomads haben das Ziel, Brücken zwischen den Abenteurern zu schlagen, das reicht von Mitreisegelegenheiten bis zu Ocean-Research-and-Conservation-Organisationen, die immer wieder Hilfskräfte für ihre Umweltschutzprogramme suchen. Auch die Young Cruisers’ Association gibt in Blogeinträgen wertvolle Starthilfen, aber auch Profi-Empfehlungen – und so ist man auf hoher See zwar auf sich allein gestellt, fühlt sich im Netz aber dennoch gut aufgehoben. Das ist ein sicherer Weg für ein großes Abenteuer. Aber Achtung: Die meisten, die schon einmal auf einem Boot unterwegs gewesen sind, betonen: Die Suchtgefahr beim Boatlife ist groß – denn das Meer lässt einen nicht mehr so schnell los.
Dieser Artikel erschien in der Falstaff TRAVEL Ausgabe Herbst 2023.